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Prof. Dr. Heinrich Kreft
Keynote von Botschafter Prof. Dr. Heinrich Kreft zur Sicherheitsordnung in Europa

Keynote von Botschafter Prof. Dr. Heinrich Kreft, langjähriger Präsident des Diplomatic Council (DC), auf dem Neujahrsempfang des DC am 27. Januar 2023 zum Thema „Von einer kooperativen zu einer konfrontativen Sicherheitsordnung in Europa – Hat Diplomatie 2023 eine Chance, den russischen Krieg in der Ukraine zu beenden?“ (frei gesprochene Rede):

Die beiden Fragen, denen ich nachgehen will, lauten: Stehen wir vor der Entwicklung von einer kooperativen zu einer konfrontativen Sicherheitsordnung in Europa, und hat Diplomatie 2023 eine Chance, den russischen Krieg in der Ukraine zu beenden?

Russlands völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat eine tektonische Verschiebung innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur zur Folge gehabt. Binnen weniger Wochen hat sich die europäische Sicherheitspolitik massiv verändert und im Grunde um 180 Grad gedreht, mehr als jede andere Entwicklung seit dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs 1989 und in den darauffolgenden Jahren.

Schweden und Finnland haben erklärt, der NATO beitreten zu wollen, wofür es noch Hürden gibt – Ungarn hat noch nicht zugestimmt und ob die Türkei zustimmt, bleibt abzuwarten. Finnland hat schon die Konsequenzen gezogen, gegebenenfalls ohne Schweden beizutreten. Mit anderen Worten: Selbst in Finnland bestehen Zweifel, dass die Türkei letztendlich ihr Veto aufgeben wird. Die Zeitenwende-Rede des deutschen Bundeskanzlers spricht für sich. Allerdings fehlt sicherlich noch vieles, um das umzusetzen, was am 27. Februar 2022 – drei Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages verkündet wurde. Daran messen insbesondere die osteuropäischen Länder, aber auch die Ukraine und die USA, Deutschland. Man muss feststellen, dass bislang viele Dinge über Ankündigungen nicht hinausgegangen sind. Indes ist ebenso zu konstatieren, dass die EU, die sich immer sehr schwergetan hat, mit der NATO in offizielle Verbindungen einzutreten, nun massiv Waffenlieferungen und sogar den Sold der ukrainischen Soldaten finanziert. Wer hätte sich das vor einem Jahr vorstellen können? Und das waren nur die ersten Schritte.

Die Entscheidung, Panzer aus Deutschland, Großbritannien, den USA und vielleicht auch aus Frankreich zu liefern, stellt eine weitere Maßnahme dar in einer ganzen Folge von Schritten, die wir seit dem 24. Februar 2022 erlebt haben. Keiner weiß, ob dies schon der letzte Schritt sein wird, aber die Vermutung liegt nahe, dass weitere folgen werden. Über Kampfflugzeuge wird bekanntlich schon gesprochen. Polen spielt dabei wie schon bei den Panzern eine ganz besondere – nachvollziehbare – Vorreiterrolle; schließlich hat das Land eine eigene Grenze zu Russland. In Kaliningrad stehen die Iskander-Raketen unmittelbar an der polnischen Grenze.

Um die heutige Situation besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, einen Schritt zurückzugehen zum Thema der kooperativen Sicherheitsordnung. Nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 war in Europa eine Sicherheitsordnung entstanden, die auf der Kooperation aller Länder basierte – einschließlich des Versuchs, Russland mit einzubinden. Es gab ein vielfach schon zitiertes Gespräch zwischen Helmut Kohl und Boris Jelzin, in dem die beiden darüber gesprochen haben, wann Russland Mitglied der NATO werden würde. Jelzins Antwort lautete weder nein noch nie, sondern, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen sei. Wir wissen alle, unter welchem innenpolitischen Druck Jelzin stand und das Land ist unter ihm mehr oder minder im Chaos versunken. Man darf nicht vergessen, dass viele im Westen damals dankbar waren, dass mit Putin jemand auf Jelzin folgte, der – sagen wir es offen – bei Sinnen und kein Alkoholiker war, und von dem wir erwartet haben, das Land zu stabilisieren. Und er hat es tatsächlich stabilisiert, allerdings zu einem Zweck, den wir alle ablehnen, nämlich, um Russland in der Größe der alten Sowjetunion wieder zu errichten.

Die NATO-Osterweiterung, die häufig angeführt wird als Grund für Putin, den Krieg gegen die Ukraine zu beginnen, hatte in der Anfangsphase überhaupt nicht das Ziel, einen Schutz gegen Russland aufzubauen, sondern es ging darum, die mittel- und osteuropäischen Länder zu stabilisieren. Deswegen kam es zur EU- und zur NATO-Erweiterung. Denn vor dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten lag der Zerfall Jugoslawiens. Damals herrschte bereits Krieg in Europa. Glücklicherweise verlief der Zerfall der Tschechoslowakei friedlich, aber vorauszusehen war das nicht. Um in der Tschechoslowakei das zu verhindern, was wir in Jugoslawien gesehen hatten, haben auch Länder, die zögerlich waren – dazu gehörte stets auch Deutschland – letztlich der Osterweiterung der NATO zugestimmt.

In diesem Zuge war es schon sehr lange angedacht worden, die NATO-Osterweiterung auf die Ukraine auszudehnen. Auf dem Bukarest-Gipfel der NATO 2008 waren es vor allem Deutschland und Frankreich, die verhindert haben, dass es schon damals zu einer Einladung an die Ukraine kam, der NATO als Mitglied beizutreten. Ziel war damals, das zu verhindern, was wir bereits nach dem Ersten Weltkrieg erlebt hatten, nach den Pariser Vorortverträgen, die bekanntlich das Habsburger Reich zerstückelt haben, und als Länder, die Erben dieses Reiches waren, auf einmal selbst imperiale Vorstellungen hervorbrachten. Es waren damals Rumänien, Polen, Jugoslawien, aber auch einige der Verliererländer wie Ungarn, die revanchistische Tendenzen entwickelten. Das hat dazu geführt, dass der Balkan in Mitteleuropa damals nicht zur Ruhe gekommen ist. Deswegen kam es zur Osterweiterung der NATO und der EU – und deswegen auch die Bemühungen, die Westbalkanstaaten in die Lage zu bringen, dass sie aufnahmefähig werden in die Europäische Union. Es gab dabei immer auch den Versuch, Russland einzubinden.

Nachdem es keine Option gab, Russland in die NATO aufzunehmen, hat man versucht, einen davorliegenden Schritt zu gehen. Man hat 1997 die NATO-Russland-Akte verabschiedet, also ein gemeinsames Gremium, in dem die NATO-Staaten zusammen mit Russland gesprochen haben. Um auch die Ukraine nicht im Kalten stehen zu lassen, hat man das gleiche mit der Ukraine getan. Aber aus russischer Perspektive wurde das so dargestellt, als ob Russland alleine sei und ganz Europa gegen sich stehen hätte. Das alles bezog sich nicht nur auf den militärischen Bereich, sondern man hatte vielmehr die Vorstellung, den militärischen Sektor insgesamt zu reduzieren – Stichwort Friedensdividende. Gerade wir in Deutschland sind dabei Vorreiter gewesen, in der Hoffnung, dass andere folgen würden. Aber insbesondere Russland hat genau das Gegenteil getan. Nachdem es Putin gelungen war, das Land zu stabilisieren, und nachdem die Öl- und Gasmilliarden nach Russland flossen, hat er weitaus weniger Geld in die Modernisierung des Landes investiert als vielmehr in die Rüstung. Es ging also auch um die ökonomische Einbindung Russlands, um damit die russische Demokratie zu stabilisieren. Russland war vielleicht nie eine lupenreine Demokratie, aber es gab Entwicklungen in Russland hin zur Demokratie. Es gab Parteien, es gab Wahlen, die auch nicht weniger fair waren als in einigen anderen osteuropäischen Ländern in der Vergangenheit. Es gab daher die berechtigte Hoffnung, Russland auf dem Weg hin zu einer Demokratie begleiten zu können. Stichwort: Wandel durch Handel, symbolisiert auch durch die Modernisierungspartnerschaft, die unter Frank-Walter Steinmeier, als er noch Außenminister war, kreiert worden war, und natürlich das weitaus größere Symbol Nordstream 1 und Nordstream 2, wo man das Schicksal Russlands mit dem Schicksal Deutschlands verbunden hat. Man hielt das damals für die richtige Politik, um Russland mit Europa zu befrieden, und in Europa einzubinden. Die meisten haben nicht damit gerechnet, dass dadurch eine verhängnisvolle Abhängigkeit unsererseits von Russland entstehen würde.

Aber Russland war zumindest seit Putin überhaupt nicht an einer kooperativen Ordnung mit Europa und in Europa interessiert. Dies entsprach schlichtweg nicht russischen Interessen. Russland wurde zunehmend nationalistischer und revanchistischer. Putin hat – Sie kennen alle das berühmte Zitat – den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Das war die Denkweise. Und das haben die Osteuropäer sehr viel ernster genommen als wir in Westeuropa. Aber wir haben im ersten und vor allem im zweiten Tschetschenienkrieg gesehen, wozu Putin bereit war. Zwischen 1999 und 2009 hat es bekanntlich einen sehr blutigen Krieg in Tschetschenien gegeben – Sie haben möglicherweise die Bilder von der Zerstörung Grosnys vor Augen –, und schon dabei ist Putins Skrupellosigkeit sichtbar geworden.

Das ging 2008 weiter mit dem Angriff auf Georgien, und dann, nach dem Maidan, der Entscheidung eines großen Teils der Ukrainer, ihren damaligen Präsidenten Janukowitsch loszuwerden und sich nach Westeuropa zu orientieren. Unmittelbar in der Folge gab es die „grünen Männchen“ auf der Krim, die Okkupation der Krim durch Militärs ohne Abzeichen, und schließlich die Annexion der Krim und dann die Unterstützung der Separatisten im Donbas. Aber selbst das hat Putin nicht ausgereicht. Wir haben Interventionen im Syrienkonflikt erlebt, und zwar sowohl von der Armee als auch von der berüchtigten Wagner-Truppe, die später auch in Libyen interveniert hat, mittlerweile in der Zentralafrikanischen Republik stationiert ist, in Mali dazu geführt hat, dass erst Frankreich abgezogen ist und jetzt Deutschland entschieden hat, die Bundeswehr aus Mali abzuziehen. In den letzten Tagen hat auch Burkina Faso erklärt, dass die Franzosen das Land verlassen müssen, und die Einladung an die Wagner-Truppe ist längst ausgesprochen, ähnlich wie in Mali die Sicherheit des korrupten Regimes zu gewährleisten.

Der Vernichtungskrieg seit dem 24. Februar letzten Jahres ist kein bloßer Eroberungskrieg, sondern eben ein Vernichtungskrieg. Wäre es „nur“ ein Eroberungskrieg, würde man militärische Einrichtungen bekämpfen, aber man würde nicht gezielt Kulturgüter zerstören. Und das ist ganz offensichtlich der Fall. Man will eine eigenständige ukrainische Kultur ausmerzen. Daher kann es keine Rückkehr zur alten Ordnung geben. Das ist die bittere Erkenntnis insbesondere für uns Deutsche. Statt der Einbindung Russlands durch die Energiepartnerschaft sind wir in ganz erheblichem Maße abhängig geworden, woraus wir uns jetzt mit viel Mühen und hohen Kosten befreien müssen.

Die Distanz zwischen Russland und Osteuropa ist noch größer als zwischen Russland und Westeuropa. Wenn Sie anschauen, wo das Verständnis für Russland größer ist, dann haben wir natürlich in Osteuropa die Serben aus historischen Gründen, aber das Verständnis ist natürlich in Deutschland oder Frankreich größer als in Polen oder vor allen Dingen auch in den baltischen Staaten, die selber als ehemaliger Teil der Sowjetunion neben Moldau das erste Ziel einer erweiterten russischen Aggression sein würden.

Was vielleicht noch schwerer wiegt: Für eine sehr lange Zeit wird es schwierig sein, zu einem Ausgleich mit Russland zu kommen, weil die Vertrauensbasis fehlt. Es herrscht Misstrauen par excellence. Putin hat alle angelogen. Er hat Biden am Telefon angelogen und auch alle, die an seinem langen Tisch gesessen haben: Macron, Orban, Scholz und etliche andere. Allen hat Putin zugesichert, dass es keinen Angriff auf die Ukraine geben werde. Nach den letzten Besuchen ist binnen weniger Tage der großflächige Angriff aus drei Himmelsrichtungen auf die Ukraine erfolgt.

Es gibt eine dritte Entwicklung, die wir zur Kenntnis nehmen und worauf wir reagieren müssen: Putins nukleare Eskalationsdrohung, die er benutzt, um einen konventionellen Krieg zu führen. Relativ früh im Konflikt hat er die Nukleardrohung verwendet, um den Westen abzuschrecken und davon abzuhalten, die Ukraine zu unterstützen. Damit wurde ein Präzedenzfall geschaffen. Wir denken an Länder wie Iran, wo niemand mehr daran glaubt, dass das Atomabkommen noch revitalisiert werden könnte – denn dazu bräuchten wir Russland und China. Der Iran ist eindeutig ein Kriegsverbündeter Russlands, liefert nicht nur die Drohnen, sondern auch andere Militärgüter an Russland. Aber man muss auch an Asien denken. Nordkoreas Kim Jong-un hat ebenfalls mit Nuklearwaffen gedroht. Das Land in Asien, das wohl als erstes Nuklearmacht werden könnte, ist Südkorea. Wenn Südkorea Nuklearmacht wird, dann könnte man sich ohne weiteres vorstellen, dass auch ein Land wie Nordkorea ähnliche Überlegungen anstellt wie Israel. Israel hat bekanntlich mehrfach klargestellt, dass eine Atomwaffe Irans Israel bedrohen und man dies nicht zulassen würde. Ein ähnliches Denkmuster könnte auf der koreanischen Halbinsel zu einem offenen Konflikt führen. Zudem haben wir noch Japan zu berücksichtigen, das ebenfalls in der Lage wäre, relativ schnell zur Nuklearmacht zu werden, weil das Land alle dazu notwendige Technik beherrscht. Will heißen: Wir brauchen eine eindeutige Haltung gegenüber der russischen Atomdrohung, sonst entsteht weltweit eine Aufrüstungsspirale mit weiteren Konflikten, die leider allesamt das Potential aufweisen, sich zu Weltkriegen auszuweiten.

Als Fazit ist festzustellen, dass sich Europa auf eine konfliktive Sicherheitsordnung hinbewegt. Das bedeutet, alle Länder in Europa werden mit hoher Wahrscheinlichkeit aufrüsten. Sollte die Ukraine gewinnen oder zumindest nicht verlieren, was wir alle wünschen, dann wird es ein Land werden, das massiv aufrüsten wird – ebenso wie Russland. Das beschreibt die große Herausforderung für die nächsten zehn oder 20 Jahre.

Es stellt sich die Frage: Hat Diplomatie 2023 eine Chance, den Krieg zu beenden? Viele dürften den Satz von Carl von Clausewitz kennen, „der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mittlen“, aus seinem Werk „Vom Kriege“ aus dem Jahr 1832. Kaum bekannt dürfte ein anderes Clausewitz-Zitat aus demselben Werk im Duktus der damaligen Zeit sein: „Sobald der Kraftaufwand so groß wird, dass der Wert des politischen Zwecks ihm nicht mehr das Gleichgewicht halten kann, so muss dieser aufgegeben werden und der Friede die Folge davon sein“. Das heißt letztendlich im Klartext: Wenn die Kriegsparteien zu der Überzeugung gelangen, die Kriegsziele nicht mehr auf dem Schlachtfeld erreichen zu können, dann besteht die Chance für Friedensverhandlungen, also für Diplomatie. Sind wir heute schon an diesem Punkt angekommen? Definitiv nicht! Putin ist überzeugt, alle oder zumindest Teile seiner Kriegsziele auf militärischem Weg zu erreichen und nicht auf dem Verhandlungsweg. Der russische Außenminister Lawrow hat erst kürzlich öffentlich verkündet, dass die Krim und die vier 2022 annektierten Republiken selbstverständlich Teil Russlands seien und nicht zur Disposition stünden. Das heißt, Verhandlungen wird es aus russischer Sicht nur geben, wenn die Ukraine vorab die Krim und die vier Republiken als Teile Russlands anerkennen würde. Das ist selbst für den ukrainischen Präsidenten Selenski, der auch nicht 100 Prozent des Landes hinter sich hat, eine unmöglich zu erfüllende Forderung. Wenn das also als Voraussetzung genannt wird, um überhaupt Gespräche zu beginnen, dann sind wir definitiv noch nicht an einem Punkt, an dem wir mit diplomatischen Gesprächen rechnen dürfen. Die Ukraine fordert natürlich selbstverständlich nicht nur die vollständige Rückgabe der von Russland besetzten Gebiete einschließlich der von Separatisten besetzten Gebiete, sondern Selenski fordert zudem Reparationszahlungen, also Zahlungen in Höhe des angerichteten Schadens. Es stellt sich die Frage, wie das durchgesetzt werden soll.

Jetzt zu den Panzerlieferungen und dem Kalkül, das dahintersteckt. Damit soll erreicht werden, dass die Ukraine das militärische Momentum zurückgewinnt, das sie derzeit verloren hat – wir sehen bekanntlich wieder russische Kräfte in Bachmut und in Saporischschja vorrücken –, und dadurch letztlich Putin dazu bringt, nach dem Motto „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ in Verhandlungen einzusteigen, bevor die Ukraine das gesamte Land zurückgewinnt. Dabei könnte Putin darauf spekulieren, aus seiner Sicht wenigstens die Krim zu behalten. Das ist ein mögliches Szenario. Aber letztendlich ist Putin selbst die entscheidende Person: Er könnte heute den Krieg beenden. Allerdings würde er damit im Grunde seine gesamte Politik der letzten Jahre, die darauf abzielte, Russland in der alten Größe der Sowjetunion wiederherzustellen, aufgeben. Doch darauf hat er seine Macht aufgebaut. Es stellt sich also die Frage, was das für seine Machtposition bedeuten würde und für ihn persönlich sowie seine Familie. Autoritäre Herrscher sind selten im Altersbett gestorben. Manchmal war es ihnen vergönnt, ins Exil zu gehen; mit Nordkorea gäbe es sicherlich ein Land, das Putin aufnehmen würde. Aber selbst Honecker hat es damals in Nordkorea nicht ausgehalten und ist nach Chile weitergezogen.

Das ist das einzige Szenario auf dem Weg zum Frieden, das ich sehe. Aber es gibt auch andere Entwicklungen, die in die entgegengesetzte Richtung laufen. Es gibt zunehmend Anzeichen dafür, dass Russland seine Wirtschaft auf Kriegswirtschaft einstellt. Die Rekrutierung von Soldaten findet zwar nicht mehr in dem Umfang wie im letzten Herbst statt, aber sie geht permanent weiter. Das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass sich Putin auf einen langen Krieg einstellt, und dass er eben nicht bereit ist, sich mit dem „Spatz in der Hand“ zufriedenzugeben, den er vielleicht bekommen könnte, wenn er in diesem Jahr zu Verhandlungen bereit wäre. Wobei in diesem Fall natürlich auch die Ukraine dazu gebracht werden müsste, zuzustimmen, dass Putin seinen „Spatz“ bekommt. Die Ukraine ist soweit abhängig von westlicher Unterstützung und westlichen Waffen, dass im Falle einer ernsthaften Bereitschaft von Seiten Russlands zu Friedensverhandlungen, letztendlich Druck auf die Ukraine entstehen wird, sich diesen Friedensverhandlungen nicht zu verschließen. Es könnte also sein, dass die Tür zu einem Waffenstillstand in diesem Jahr ein Stückchen aufgeht. Dann müssen wir alle bereit sein und helfen, dass dieser Spalt dazu führt, dass die Tür weit geöffnet wird. Es wäre für uns alle zu wünschen, aber insbesondere natürlich für die Zivilisten und die Soldaten in der Ukraine, und natürlich auch für die russischen Soldaten, die dann auch nicht mehr fallen würden.