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Thomas Gronenthal
Das Auto und die deutsche Industrie

Von Thomas Gronenthal, Chairman Diplomatic Council

Es ist illusorisch zu glauben, die deutschen Autohersteller könnten mit der Digitalkompetenz der USA oder dem Kostenniveau Chinas mithalten. Die Verteufelung des Diesels und die Lobpreisung der Elektromobilität hat vor allem ideologische und wirtschaftliche Ursachen.

1,6 Milliarden Fahrzeuge gibt es rund um den Erdball. Jedes Jahr werden etwa 80 Millionen neue produziert – ungefähr so viele, wie Kinder jedes Jahr geboren werden. Sie alle, die Wagenbesitzer und die Kinder, werden von der anstehenden automobilen Revolution betroffen sein. Die „stinkenden Kisten“, die man mit röhrendem Sound durch die Gegend „heizen“ konnte, nähern sich ihrem Ende. Es ist ein dramatischer Abschied, wie das Dieseldesaster mit seinem Netz aus Lug und Betrug auf beinahe schon tragische Weise zeigt. Die meisten von uns gehören zu den Betroffenen, denn wir fahren noch einen Benziner oder einen Diesel. Damit verbunden ist die Ungewissheit, wie lange man damit noch in welche Städte oder Regionen fahren darf. Wer schon mit einem E‑Auto auf die neue Seite gewechselt ist, kämpft dort vermutlich mit den Herausforderungen einer Technologie, die noch am Anfang steht. Die Frage nach der verbleibenden Reichweite ist im aktuellen E‑Zeitalter wie ein Damoklesschwert, das über jeder längeren Reise schwebt.

Dieseldesaster und Klimakatastrophe

Auf die Frage nach dem warum, nämlich warum unsere Gesellschaft die automobile E‑Revolution überhaupt eingeläutet hat, gibt es zahlreiche Antworten und eine Nicht-Antwort. Fangen wir mit letzterer an: Die deutschen Automobilhersteller, über Jahrzehnte hinweg ein Rückgrat der heimischen Wirtschaft und eine weltweit bewunderte Symbolik für deutsches Ingenieurswesen mit Marken, die überall auf der Welt Begehrlichkeit weckten, haben die Reise in Richtung E‑Mobilität nicht initiiert, sondern ganz im Gegenteil zu verhindern versucht, bis sie am Ende mit ihrer Blockadehaltung gescheitert sind. Und das hat vor allem zwei Gründe.

Erstens haben sich die deutschen Autohersteller mit dem Dieseldesaster selbst um jedwede Glaubwürdigkeit gebracht. 2015 fielen die Betrügereien der Hersteller erst auf, doch begonnen hatte das Spiel mit Lug und Betrug lange vorher.

Zweitens hat die bis in die 1970er Jahre zurückgehende Sorge um die Erhaltung der natürlichen Ressourcen unserer Erde mit der seit 2018 um sich greifenden Angst vor einer Klimakatastrophe geradezu zur Verdammung des automobilen Verbrennungsmotor als Inkarnation der Zerstörerung unserer Umwelt geführt.

Beide Aspekte – das Dieseldes­aster und die Angst vor der Klimakatastrophe – spielen eine Schlüsselrolle für den Siegeszug der Elektromobilität und finden daher in dem Buch entsprechend Raum.

Denn die deutsche Autoindustrie ist mit dem Dieseldesaster über Jahre hinweg sehenden Auges in Richtung Abgrund gerast. Sie hat damit sich, dem Qualitätslabel „made in Germany“ und dem Wirtschaftsstandort Deutschland schweren Schaden zugefügt. Die Dreistigkeit, mit der sie sich kurz, nachdem der Schwindel aufgeflogen war, von dieser Vergangenheit distanziert hat, war schwer zu überbieten. Die Chuzpe, mit der die Branche ihre Kunden nicht nur im Regen hat stehen lassen, sondern sogar noch versucht hat, aus dem von ihr verursachten Dilemma ein zusätzliches Geschäft zu generieren, war beispiellos.

Das Ende der deutschen Dominanz beim Auto

Hinzu kommt freilich, dass sowohl die amerikanische als auch die asiatische Industrie ihre Chance sah und sieht, der deutschen Dominanz auf dem Automobilsektor den Garaus zu machen. Als die „großen Gewinner der Irrfahrt E-Mobilität“ hat der Autor US-amerikanische Firmen, allen voran Tesla, und das Gros der neuen chinesischen Autobauer wie beispielsweise Nio ausgemacht. In dem Buch skizziert er, wie weitere US-Konzerne wie Apple, Amazon und Google künftig auf den europäischen Markt stürmen werden. Analytisch zeigt er zugleich den Weg der Verlierer auf, darunter BMW, Daimler und Volkswagen.

Diese Entwicklung hängt vor allem damit zusammen, dass sich die deutsche Autoindustrie über Jahrzehnte hinweg als gelinde gesagt wenig innovationsfreudig erwiesen hat. Träge und arrogant haben sich die deutschen Automobilhersteller auf ihren Erfolgen ausgeruht, ohne die grundlegenden Veränderungen in ihrer Branche auch nur vorherzusehen, geschweige denn mit zu gestalten. Statt den Aufwecker Elon Musk und sein Tesla-Experiment als Vorboten zu begreifen, sonnten sich die deutschen Autobosse über Jahre hinweg in Selbstgefälligkeit bis hin zur Arroganz. Das Aufwachen kam spät, möglicherweise zu spät. Doch es war nur ein halbes Erwachen: Die Umstellung beim Antrieb auf E-Mobilität war Anfang der 2020er Jahre bei allen Autoherstellern angekommen. Aber die fundamentalen Auswirkungen künftiger Generationen autonom fahrender Automobile findet auf dem Weg in die Mitte der 2020er noch viel zu wenig Beachtung bei den traditionellen Autoherstellern.

Diese Entwicklung hat die deutsche Autoindustrie als in eine Zwickmühle gebracht. Zum einen drohen die übermächtigen Digitalkonzerne der USA mit ihrer Softwaredominanz das Zepter im Automobilmarkt zu übernehmen. Zum anderen gerät die deutsche Industrie in eine technologische und wirtschaftliche und somit auch politische Abhängigkeit von der Volksrepublik China, die für die Zukunft der deutschen Automobilbranche und damit auch Deutschlands nichts Gutes verheißt.

Damit hat die deutsche Autobranche nicht nur ihre eigene Zukunft, sondern auch die Zukunft Deutschlands als Industrienation im internationalen Vergleich aufs Spiel gesetzt. Es ist dieser geopolitische Aspekt, der bei vielen Menschen die Frage nach der künftigen industriellen Prosperität Deutschland aufwirft.

Fazit: Schwer angeschlagen vom Dieseldesaster rast die deutsche Autoindustrie auf den Abgrund zu. Das wird verheerende Folgen für den Industriestandort Deutschland haben.