Thought Leadership
Von DC Mitglied Jane Enny van Lambalgen*
Die Zukunft gehört den Unternehmen, die Nachhaltigkeit pragmatisch, nicht ideologisch betreiben.
Immer mehr Unternehmen distanzieren sich von den strengen ESG-Anforderungen soweit gesetzlich zulässig und im Zusammenhang mit Bankkrediten nicht zwingend notwendig. Man kann von einer „Depriorisierung“ sprechen. So steigt die Zahl der Firmen, die sich bewusst von ESG-Programmen abkoppeln oder diese nur noch oberflächlich erfüllen. Dieser Trend ist branchenübergreifend – vom Maschinenbau bis zur Konsumgüterindustrie – zu beobachten.
Was als verantwortungsbewusster Unternehmensansatz begann, ist inzwischen für viele Firmen ein betriebswirtschaftlicher Klotz am Bein. ESG wird zunehmend als Bürokratiemonster und Kostenfalle wahrgenommen. In vielen Firmen ist es durch das Thema Material Compliance verdrängt worden, also die Einhaltung umwelt- und sicherheitsrechtlicher Vorschriften.
ESG-Müdigkeit in den Chefetagen
Es ist eine gewisse ESG-Müdigkeit“ in den Chefetagen festzustellen. Die Realität in den Unternehmen ist: ESG bremst Geschwindigkeit, bindet Ressourcen und liefert dem Kerngeschäft keinen erkennbaren Mehrwert mehr. Viele Vorstände haben genug davon, sich im regulatorischen Klein-Klein zu verlieren, während globale Wettbewerber, insbesondere aus Asien, völlig unbeeindruckt an ihnen vorbeiziehen.
Lediglich Unternehmen, die in erheblichem Maße von Bankkrediten abhängig sind, nehmen ESG noch ernst, weil es von den Banken gefordert wird. Bei Bonitätsprüfungen und Kreditentscheidungen gelten ESG-Kriterien als Indikatoren für das Risikoprofil eines Unternehmens. Dabei steht vor allem die bessere Kontrolle über die Geldflüsse durch strenge Governance-Regeln im Fokus der Betrachtung.
Vor allem mittelständische Industrieunternehmen sind zunehmend bereit, ESG-Standards nur noch minimal zu erfüllen oder regulatorische Risiken bewusst in Kauf zu nehmen. Wir erleben gerade einen Bruch mit dem ESG-Idealismus. Es geht zurück zu dem, was wirklich zählt: Profitabilität, Resilienz und operative Exzellenz. Wer glaubt, dass ESG das wichtigste strategische Ziel bleibt, irrt. In meinen Mandaten höre ich von Geschäftsführern immer häufiger: ‚ESG muss uns wieder dienen – und nicht umgekehrt.‘
Wachsende Komplexität und ausufernde Kosten
Ein zentrales Problem liegt in der wachsenden Komplexität und den Kosten der Nachweisführung. Viele Unternehmen ertrinken in Audit-Pflichten, CO2-Bilanzen, Lieferkettendokumentationen und nicht-finanziellen Reportings. Das ist inzwischen ein eigener Verwaltungsapparat, der keinerlei Wertschöpfung bringt.
Wir erleben in der Praxis, dass ESG-Themen intern bewusst depriorisiert werden. Die Führungskräfte sprechen offen davon, den Aufwand auf das gesetzlich zwingende Minimum zu reduzieren. Für viele ist ESG heute ein Compliance-Thema, etwa im Zusammenhang mit Bankkredit, kein Differenzierungsfaktor mehr.
Kapitalmarktseite: Wettbewerbsfähigkeit wichtiger als ESG
Auch die Kapitalmarktseite reagiert bereits spürbar. Der Druck von Investoren auf ESG-konformes Handeln nimmt ab, insbesondere bei Private-Equity-Gesellschaften und in nicht-europäischen Märkten. Das reine ESG-Narrativ zieht nicht mehr. Heute zählt wieder, ob ein Unternehmen wettbewerbsfähig, schnell und kosteneffizient ist.
Es ist kein Zufall, dass globale nachhaltige Fonds 2025 die größten jemals gemessenen Abflüsse verkraften mussten. Der Anteil der S&P 100-Unternehmen, die „ESG“ im Titel ihrer Sustainability Reports nutzen, sank von 40 Prozent 2023 auf 25 Prozent 2024. 2025 liegt er bislang im einstelligen Bereich.
Wer ESG dogmatisch über alles stellt, riskiert die Wettbewerbsfähigkeit. Die Zukunft gehört den Unternehmen, die Nachhaltigkeit pragmatisch, nicht ideologisch betreiben.
*Jane Enny van Lambalgen ist Founding Partner und Geschäftsführerin der Firma Planet Industrial Excellence sowie Mitglied bei United Interim, der führenden Community für Interim Manager im deutschsprachigen Raum, und im Diplomatic Council, einer globalen Denkfabrik mit Beraterstatus bei den Vereinten Nationen (UNO). Für Unternehmen ist sie tätig als Interim Manager für Strategie, Operational Excellence, Turnaround, Supply Chain Management und Digital Transformation. Als Managerin auf Zeit übernimmt sie Positionen als CEO, Managing Director, COO, Delegierte des Verwaltungsrats, Aufsichtsrat und Beirat in der mittelständischen Wirtschaft. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind internationale Operations-Einsätze mit Fokus auf Produktion, Supply Chain und Logistik. Für ihre Verdienste wurde sie als „Top Interim Manager 2025“ ausgezeichnet.