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Ulf Camehn
Handlungsoptionen für den Mittelstand

Durchgereicht: Vom Ignorieren erster Signale bis zur Insolvenzreife – wie der Mittelstand seine Handlungsoptionen verspielt

Von DC Mitglied Ulf Camehn

Ein Weckruf für Familienunternehmen und den deutschen Mittelstand

Zahlen lügen nicht - sie zeigen die Dramatik der Lage ungeschminkt. Der aktuelle Creditreform-Herbstbericht 2025 zeigt: 30,8 % der mittelständischen Unternehmen in Deutschland sind eigenkapitalschwach (EK-Quote < 10 %) – der höchste Wert seit neun Jahren.

Die Sparkassen, klassische Hausbanken des Mittelstands, sprechen von „Alarmstufe Rot“, weil geringe Eigenkapitalquoten Handlungsfähigkeit kosten: höhere Zinslasten, schwierigere Kreditaufnahme, mehr Abhängigkeit von Dritten, steigendes Insolvenzrisiko.

Die Ertragslage ist vielerorts ausgedünnt, Rücklagen wurden aufgebraucht, Verbindlichkeiten sind gestiegen; im verarbeitenden Gewerbe und im Handel melden besonders viele Betriebe Ertragsminderungen.

Parallel ziehen die Insolvenzen an – bereits im ersten Halbjahr 2025 lag die Zahl der Firmenpleiten deutlich zweistellig über Vorjahr. Diese Entwicklung beschreibt einen breiten Substanzverlust im Mittelstand.

Die Konjunktur hilft uns kurzfristig nicht aus der Patsche: Die Industrieproduktion ist im August so stark eingebrochen wie seit Beginn des Ukraine-Kriegs nicht mehr (-4,3 % zum Vormonat; Autoindustrie -18,5 %). Ökonomen rechnen eher mit Stagnation als mit Aufschwung.

Wer also darauf hofft, „es wird schon wieder“, verwechselt Wunsch mit Steuerung. Herauswachsen – die alte, liebgewonnene Strategie vieler Unternehmen – funktioniert in dieser Lage nicht mehr, jedenfalls nicht ohne konsequentes Re-Design des Geschäftsmodells und eine andere Form der Unternehmensführung.

Genau darum geht es in diesem Beitrag: Ich zeichne die Krisenmechanik nach, lege die hausgemachten Ursachen offen, ordne die Pflichten von Organen in der Früherkennung ein, und zeige dann, wie professionelle Begleitung – Beirat/Aufsichtsrat, Beratung und Interim Management – präventiv wirkt und in jeder Unternehmensphase Wert stiftet, nicht erst beim Feuerlöschen.

Krisenstadien

In der Praxis spricht man von sechs Stadien, die sich über Monate bis Jahre aufbauen – und in welchen der Handlungsspielraum mit jeder Stufe abnimmt.

Am Anfang steht die Stakeholder-Krise, welche sich in Konflikten zwischen einzelnen oder mehreren Stakeholdern begründet. Dazu können Unstimmigkeiten im Gesellschafterkreis genauso zählen wie Vertrauensverluste und/ oder Diskrepanzen innerhalb der Unternehmensleitung. Darüber hinaus sind Konflikte mit den Arbeitnehmervertretern und erste Zweifel aus dem Finanzierer- und Investorenkreis typische Merkmale dieses Krisenstadiums.

Die nächste Stufe ist die Strategie-Krise. Sie zeigt sich, wenn das bestehende Geschäftsmodell den Markt nicht mehr trifft, wenn Angebot und Nachfrage nicht mehr sauber zueinanderfinden. Es ist die Phase der Verdrängung: Man arbeitet mit dem, was „immer funktioniert hat“, statt sich ehrlich zu fragen, welches Kundenproblem man morgen besser löst als heute. Wer hier zaudert, rutscht weiter.

Die Produkt- und Absatzkrise ist geprägt von rückläufiger Nachfrage, fehlerhafter Preispolitik und schwacher Vertriebssteuerung. In dieser Phase zeigt sich, dass das Sortiment und/ oder die Dienstleistungen zumindest in Teilen nicht mehr wettbewerbsfähig sind.

Es folgt die Umsatz- und Ertragskrise. Nachfrage- und Ergebnisrückgang, Margen erodieren, Fixkosten drücken, zunehmend unzureichende Eigenkapitalausstattung. Jetzt beginnt die Symptombekämpfung: Budgets werden linear gekürzt, Projekte eingefroren, „Rasenmäher-Effekte“ dominieren. Doch ohne Priorisierung nach Wirkung verschleißt man die Organisation und verpasst die wirklich großen Hebel.

Dann beginnt die Liquiditätskrise. Zeit wird zur knappsten Ressource. Linien werden enger, Lieferanten verlangen Vorkasse und Klumpenrisiken in der Finanzierungsstruktur fallen dem Unternehmen auf die Füße. Wer nicht allerspätestens hier externe Unterstützung einbindet, verliert binnen weniger Wochen Substanz und Optionen.

Am Ende steht die Insolvenzreife (§ 17 - 19 InsO) – Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit. An diesem Punkt entscheidet die Qualität der Vorbereitung darüber, ob ein geordneter Schutzschirm, ein Neustart oder nur noch die Schadensbegrenzung bleibt. Der Handlungsspielraum ist minimal – genau deshalb muss man ihn in den vorherigen Stadien nutzen.

Ursachenanalyse 

Ich halte wenig von Ausflüchten. Rahmenbedingungen wie Energiepreise, Bürokratie oder Lohnkosten sind real. Aber sie erklären nicht, warum die eigenen Hausaufgaben liegen bleiben. Wenn Unternehmen „durchgereicht“ werden, liegt das meist an Versäumnissen im Inneren und an nicht gelebter Verantwortung.

In der Praxis beginne ich häufig mit den Pflichten. Geschäftsleiter sind verpflichtet, Krisenfrüherkennung und Risikovorsorge sicherzustellen. Das gilt zum Beispiel in der GmbH seit jeher über § 43 Abs. 1 GmbHG. Und in § 1 des StaRUG (Unternehmensstabilisierungs- und restrukturierungsgesetz) ist die Pflicht zur systematischen Überwachung bestandsgefährdender Entwicklungen ausdrücklich betont worden. Wer kein wirksames Risikomanagement betreibt, handelt pflichtwidrig – mit entsprechenden Haftungsrisiken. Ich erlebe in Mandaten immer wieder, dass dieses Pflichtenset entweder unbekannt oder nicht operationalisiert ist. Das ist mehr als eine Lücke – es ist ein systemischer Blindflug.

Genauso kritisch ist die fehlende Selbstreflexion. Frühindikatoren wie rückläufige Auftragseingänge, sinkende Abschlussquoten, steigende Reklamationen, sinkende Deckungsbeiträge oder eine höhere Fluktuation werden als „temporär“ erzählbar gemacht. Man vertraut der Erzählung mehr als den unbestechlichen Zahlen. Daher: Zahlen lügen nicht!

Auch der übermäßige Kostenfokus ist ein Fallstrick. Kosten senken kann (fast) jeder, aber einen Mehrwert für den Kunden zu schaffen ist die eigentliche Kunst. Wer die Organisation ausschließlich auf Sparen konditioniert, ohne den Lösungswert seiner Produkte und Dienstleistungen zu erhöhen, erodiert sukzessive. Wir kommen aus der Krise nicht ausschließlich durch Sparprogramme, sondern durch ein Re-Design des Geschäftsmodells: weg von der Produktlogik („Was wir können“) hin zur Lösungslogik („Welchen Erfolg erkauft sich der Kunde bei uns?“). Das Denken vom Kunden her ist entscheidend – ein Prinzip, das auch Unternehmen wie Apple zur Meisterschaft geführt hat. Man hat ein Ökosystem geschaffen, dessen verlassen Kraft kostet!

Hinzu kommt die Investitionsschwäche in Digitalisierung und KI. Steuerung im 21. Jahrhundert bedeutet: Echtzeit-Transparenz, Szenarioanalysen, Automatisierung, Datenqualität. Wer weiter in Excel-Silos plant, kann Komplexität nicht mehr beherrschen – schon gar nicht bei schwankenden Inputpreisen, Nachfrageunsicherheit und sich ändernden Wertschöpfungsketten.

Und ja: externe Faktoren drücken. Aber sie taugen nicht als Freibrief, um interne Defizite zu ignorieren. Wie auch der Bundesverband der Insolvenzverwalter (VID) beobachtet, schützt Tradition heute niemanden mehr: „Wer sein Geschäftsmodell nicht frühzeitig anpasst, landet schneller im Verfahren als früher“. Genau deshalb ist „Herauswachsen“ ohne Neuausrichtung ein gefährlicher Mythos.

Von der Produkt- zur Lösungslogik

Früher half es mitunter, ein oder zwei Konjunkturzyklen „auszusitzen“. Heute ist das vorbei. Die Zyklen sind kürzer, die Kapitalmärkte nervöser, die Technologiezyklen schneller – und die Kunden weniger geduldig. Wachstum entsteht nicht mehr durch „mehr vom Gleichen“, sondern durch das besser gelöste Kundenproblem.

Ich erlebe das quer durch verschiedene Branchen: Wer sein Angebot nicht länger über Produktmerkmale, sondern über den konkret geschaffenen Nutzen definiert, entkommt der Preisspirale, stabilisiert Margen und schafft Differenzierung. Es geht um ein Umdenken: vom „Was bieten wir an?“ hin zum „Welchen Erfolg erzielt der Kunde mit uns?“ – also Output zum Outcome.

Warum das wichtig ist:

·       In einer produktgetriebenen Logik (Output) konkurriert man über Features und Preise

·       In einer lösungsgetriebenen Logik (Outcome) konkurriert man über Ergebnisse, Vertrauen und Wirkung

Genau das meine ich mit einem Re-Design des Geschäftsmodells: Leistungen, Preislogiken, Prozesse und Partnerschaften so zu gestalten, dass Kundennutzen zur harten Währung wird – und nicht die Rabatthöhe. Das setzt voraus, dass man den Kundenerfolg überhaupt misst. Hier leistet der Net Promoter Score (NPS) wertvolle Dienste. Er misst, wie stark Kunden bereit sind, ein Unternehmen oder ein Produkt weiterzuempfehlen – und damit indirekt, wie sehr sie den wahrgenommenen Nutzen honorieren.

Ich nutze den NPS nicht als Marketingkennzahl, sondern als strategischen Steuerungsparameter: Er zeigt, ob die Organisation wirklich aus Kundensicht denkt, ob Service und Produktversprechen zusammenpassen und ob wir unser Wertangebot verbessern oder verwässern. Ein sinkender NPS ist fast immer ein Frühindikator für Margenrückgang, Preisverfall oder schwindende Loyalität.

Unternehmen, die den Wechsel vom Produkt- zum Lösungsanbieter schaffen, sind deutlich widerstandsfähiger. Sie wachsen nicht mehr aus Zufall, sondern aus Relevanz. Und genau das schafft Preisdurchsetzung und Krisenfestigkeit.

Professionelle Begleitung: Feuerwehr & Frühwarnsystem

Aufsichtsrat/ Beirat, Consulting und Interim Management gehören in jede Unternehmensphase. Und zwar präventiv und nicht erst im Akutfall.

Ein wirksamer Beirat/Aufsichtsrat ist mein bevorzugtes Frühwarnsystem: Er zwingt zu Transparenz, verankert Regel-Reviews zu Cash, DB, Auftragseingang, Kundenverlust und Reklamationen, hinterfragt Annahmen und schützt vor Betriebsblindheit.

Beratung liefert analytische Tiefe, Benchmarks und Hypothesen.

Interim Management schließt die Umsetzungslücke - mit Ergebnisverantwortung im Linienmodus, mit Tempo, Disziplin und belastbaren Zahlen.

Dass das kein Sonderfall, sondern Best Practice ist, zeigt auch der Wirtschaftsreport 2025 aus der United-Interim-Community: Deutschland wird die Rezession nur mit grundlegenden Reformen überwinden; interimistische Kompetenz wird genau dort wirksam, wo Kapazität, Know-how und Tempo fehlen.

Diese Zusammenspiel ist keine Glaubensfrage, sondern eine Organisationsarchitektur, die in unsicheren Zeiten die Fähigkeit zur Veränderung sichert.

Von der Ist-Lage zur Aktion: Was jetzt konkret zu tun ist

In der aktuellen Gemengelage empfehle ich folgenden Dreiklang.

Erstens: Transparenz und Pflichtenerfüllung herstellen. Ein funktionsfähiges Risikofrüherkennungssystem ist kein „nice to have“, sondern gesetzliche Pflicht und unternehmerische Vernunft. Ich etabliere mit Ihnen eine Reporting-Struktur, die unbestechlich ist: EBITDA, 13-Wochen-Prognose, Netto-Cashflow, Kundenzufriedenheit, Mitarbeiterfluktuation und Churn-Rate – Kennzahlen, die den Puls des Unternehmens messbar machen.

Zweitens: Geschäftsmodell neu justieren. Wir übersetzen Produktmerkmale in Kundenergebnisse, richten Pricing und Service an Wirkung statt an Stückzahlen aus und priorisieren Maßnahmen nach Wertbeitrag und nicht nach Lautstärke. Das ist der wirksamste Weg, nicht nur zu sparen, sondern robust zu werden. Dass „Herauswachsen“ ohne diese Neuausrichtung ein Irrweg ist, zeigt die aktuelle Insolvenzdynamik deutlich.

Drittens: Begleitung institutionalisiert denken. Gemeinsam kümmern wir uns um eine wirksame Gremienarbeit (Beirat/Aufsichtsrat), definieren einen Beratungs- und Interim-Einsatzplan für kritische Meilensteine und verankern Regel-Reviews. So wird aus punktueller Feuerwehr eine dauerhafte Resilienz- Architektur, die auch in guten Jahren trägt.

Schlusswort

Die Zahlenlage zwingt uns, ehrlich zu sein: Herauswachsen ohne Veränderung ist vorbei. Durchstarten mit neuem Design der Organisation – das ist möglich. Wenn Sie diese Strecke gehen wollen, begleite ich Sie: präventiv in der Schärfung, konsequent in der Umsetzung, messbar im Ergebnis.

* Ulf Camehn ist Trusted Member des Diplomatic Council (DC) und zählt zu den etablierten Interim Managern im deutschsprachigen Raum. Seine Schwerpunkte liegen in Restrukturierung, Organisationsentwicklung und Projektmanagement – mit besonderer Expertise in der Integration von KI und der Umsetzung von ESG-Strategien. Darüber hinaus überbrückt er Vakanz als Interim CFO, übernimmt Mandate als Restrukturierungsmanager/ CRO und berät KMU in strategischen Fragestellungen. Ausgezeichnet wurde er 2021 in einer Beilage des manager magazins als Top Interim Manager der D-A-CH-Region, 2024 als „Expert of the Year – Interim Management“ (Kategorie ESG) und 2025 als „Interim Manager of the Year“ (Kategorie Restrukturierung), jeweils durch die Steinbeis Augsburg Business School. Für zwei Fachbeiträge in der Reihe „Von Interim Managern lernen“ erhielt er zudem den Quality Writers Award des Diplomatic Council.